Marie Capesius ist keine Fotografin im klassischen Sinne. Gleichermaßen von langjähriger Recherchearbeit und ungezwungener Intuition getrieben verbindet sie in ihrer Arbeit visuelle, textliche und performative Elemente, um einfühlsame Geschichten über ihre Umwelt und sich selber zu erzählen. Wir trafen uns mit der Künstlerin in der Konschthal Esch und unterhielten uns über den Reiz von analoger Fotografie, die Rolle von Spontanität und Zufall in ihren Werken und ihre Beziehung zu den Menschen, die sie mit ihrer Kamera einfängt.
Marie, fangen wir am besten von vorne an. Kannst Du uns von Deinem Werdegang als Fotografin erzählen?
Als Kind und Jugendliche hatte ich Zugang zu den Kameras meines Vaters, da hat es eigentlich angefangen. Tatsächlich habe ich schon immer viel fotografiert, mir aber keine Fragen dazu gestellt. Ich habe auch etwas ganz anderes studiert, ich habe einen Master in „Innovation and Change Management“ an der Universität Brighton absolviert. Nach der Uni bin ich wieder nach Luxemburg gezogen und habe kurzzeitig dort gearbeitet. Ich habe aber ziemlich schnell realisiert, dass das nicht der richtige Weg für mich war. Daraufhin bin ich nach Berlin gezogen.
Als ich im Januar ankam war es wahnsinnig kalt. Trotzdem war ich total fasziniert von der Stadt und bin ständig mit meiner Kamera rausgegangen. Ich habe Berlin stundenlang bei Minusgraden fotografiert… Irgendwann habe ich dann bemerkt, dass mich da etwas anzieht! Daraufhin habe ich einen Abendkurs bei der Ostkreuzschule für Fotografie angefangen. Da habe ich zum ersten Mal in Serien gedacht und meine Intuition, mein Gefühl sowie das logische Konstrukt in meine Arbeitsweise integriert. In dem Jahr habe ich auch mit zwei anderen Fotografen eine Dunkelkammer aufgebaut. Ich habe dort stunden- und nächtelang Prints entwickeln können.
Und nach deinem Abendkurs hast Du dein Fotografie-Studium an der Ostkreuzschule für Fotografie fortgeführt. Was genau hat dich an der analogen Fotografie so gereizt?
Ich habe mit meiner Kamera gelernt loszulassen. Man sieht nicht, was dabei rauskommt und mit diesem Nicht-Wissen muss man umgehen. Ich mache sehr gerne Porträts, weil der Austausch mit der portraitierten Person vor, während und nach der Entstehung des Bilds auf einen Dialog sowie auf Vertrauen und Intimität basiert. Das Porträt beinhaltet diesen Austausch in seiner Materie sowie auch auf metaphysischer und energetischer Ebene. Mit einer analogen Kamera ist es ein langsameres Arbeiten, was mir sehr gut gefällt. Wie schnell ich laufe und wie ich rede hat einen direkten Einfluss auf die Person und letztendlich auf das Porträt. Am Ende nimmt man zwei, maximal drei Bilder, und alles davor, dieser Raum von Austausch, konkretisiert sich dann im Bild. Dieses Reduzierte und Konzentrierte inspiriert mich.
Wenn wir schon bei Porträts sind, können wir auch gleich über dein Projekt HELIOPOLIS reden. Auf der Ile du Levant, eine Insel in der Nähe von der französischen Mittelmeerküste, wurde Anfang der 1930er das erste Naturisten-Dorf gegründet, welches immer noch besteht, obwohl die Insel nun zu 90 % als Raketenteststation verwendet wird. Dort hast Du die Menschen des Dorfs dokumentiert. Wie bist Du vorgegangen?
Durch eine Freundin von meiner Mutter hatte ich Zugang zu einem Bungalow auf der Insel und wurde auch allen vorgestellt. Dadurch bin ich viel schneller in Kontakt mit den Einwohner*innen gekommen. Ich habe zunächst die ältere Generation fotografiert, was spannend war, weil sie mir von ihrer Herkunft, Insel und Gemeinschaft erzählt haben. Als ich den nächsten Sommer auf die Insel zurückkam, habe ich dann die Jugendlichen kennenlernen und porträtieren können.
Es hat sich recht schnell ein Vertrauensverhältnis aufgebaut. Auch weil ich in meinen Bildern das Natürliche von der Sexualität entkoppelt habe. Denn Nacktheit zieht viele Leute an. Es gibt die Naturisten – die sind nackt, weil sie so geboren sind – und die Nudisten – die mögen es einfach, nackt zu sein – und diese zwei Typen gibt es eben auch auf der Insel. Ich habe mich auf die Naturisten fokussiert. Heliopolis ist ein Ort, der mich wahnsinnig inspiriert, von der Natur und den Menschen her. Daraus entstand meine Abschlussarbeit für die Fotoschule; ein Buch, in dem ich Foto und Text kombiniert habe.
Deine Fotos wurden ebenfalls auf der Insel ausgestellt, dann 2019 in den Reinbeckhallen in Berlin und letzten Sommer in der Galerie Nei Liicht in Düdelingen. Sowohl im Buch als auch in den Ausstellungen kommt Schrift ins Spiel. Welche Rolle spielt Text im Projekt HELIOPOLIS?
Für diese Arbeit habe ich tatsächlich viel schriftlich aufgenommen. In Notizbüchern habe ich aus Kontaktbögen herausgeschnittene Bilder gesammelt und spontane und flüchtige Gedankenabschnitte mit den Bildern assoziiert. In diesem Arbeitsprozess ist mir bewusst geworden, dass ich gerne Geschichten erzähle. Dann hat mich für die Ausstellung in der Galerie Nei Liicht einer der Kurator*innen gefragt, ob ich meine Texte auf die Wand schreiben möchte. Das wollte ich eigentlich schon immer machen, hatte diesen Einwand bisher noch nicht gewagt, mit einem Stift direkt auf die Wand zu schreiben.
Und bei der Fotoausstellung Quick + Dirty im September 2021 hast Du deine Polaroid-Fotoserie mit einem handgeschriebenen Wandtext kombiniert – quasi als Weiterführung dieses Gedankens?
Genau, das war eine Weiterentwicklung. Ich hatte mir die Option offengehalten, an die Wand zu schreiben, wenn die Inspiration mir kommen würde. Die Wörter kamen mir dann ganz klar und spontan kurz vor der Eröffnung. Ich mag es, wenn zwei Wörter zueinander finden und aus dieser Begegnung etwas Neues schaffen. Beim Aufzeichnen war mir bewusst, was Text mit Fotografie macht, wie der Raum dadurch inszeniert wird. Während der Vernissage habe ich dann spontan angefangen, den Text vorzulesen, wenn Leute in den Raum reinkamen, als Performance. Dort ist mir bewusst geworden, dass die Stimme ein grundlegendes Element meiner Arbeit ist, um Emotionen herüberzubringen. Improvisation spielt eine große Rolle in meiner Kunst: wie ich schreibe, wie ich auf Menschen zugehe…
Intuition und Spontanität sind wichtige Bestandteile deiner Arbeit. Diese befinden sich jedoch in einem Spannungsverhältnis mit der akribischen Recherchearbeit, die Du im Rahmen deiner Projekte immer betreibst. Wie siehst Du dieses Verhältnis?
Das ist tatsächlich ein guter Spiegel von mir. Ich bin gleichzeitig sehr überlegt, strategisch und rationell, aber auch intuitiv, gefühlsvoll und empathisch, und ich integriere beides in meinen Werken. In meiner Herangehensweise ist es wichtig, Sachen logisch aufzubauen und zu recherchieren. Wenn ich diese Basis habe dann kommt die Intuition ins Spiel, da kann ich mich frei entfalten. Aufmerksamkeit ist ein wichtiges Element meiner Intuition; ich muss aufmerksam und mit allen Sinnen wach bleiben, um Subtilitäten und Zeichen in meinem Umfeld wahrzunehmen. Das hat man viel mehr, wenn man reist, man ist mit seinen Sinnen verbunden. Es gibt aber so viele magische Momente im Alltag und es ist eine tägliche Übung, offen und wach dafür zu bleiben.
Diese Achtsamkeit gegenüber dem Erfahrenen spielt bestimmt auch eine Rolle in deinem neuen Projekt VARVAKIS, wofür Du ein Stipendium vom CNA erhalten hast, die „bourse d'aide à la création et à la diffusion en photographie“. Kannst Du uns schon etwas über das Projekt verraten?
Ich habe bei HELIOPOLIS gemerkt, dass mich bestehende Geschichten sehr inspirieren. Das sind Leitfäden, an denen ich mich gewissermaßen orientiere, aber dann auch davon abweiche. Nachdem ich in meinem letzten Projekt ein Thema behandelt habe, was mir nicht so nah war – also der Naturismus – stelle ich in meiner neuen Arbeit die Frage „Wo komme ich her?“ und schaue nach innen und zurück. Es gibt nämlich eine spannende Geschichte über einer meiner Vorfahren, der Varvakis hieß. Varvakis hat Anfang des 19 Jahrhundert ein Vermögen mit Kaviarexport gemacht und hat sein Vermögen an Griechenland gelassen. Es gibt in Athen eine Stiftung, eine Schule und einen Markt, die nach ihm benannt sind.
Für das Projekt habe ich Athen schon zweimal besucht und dabei die Herangehensweise der „psychogeography“ angewandt. Die Idee dabei ist, sich vom Konstrukt des Stadtbilds zu lösen und mit seinen Sinnen und Gefühlen zu verbinden, um sich freier im urbanen Raum zu bewegen. Ich habe vor, dieses Jahr die Geburtsinsel von Varvakis zu besuchen. Die Serie wird in der Form eines Buchs erscheinen. Genaueres kann ich noch nicht sagen, ich werde aber definitiv Geschichten erzählen!